Wie Deutschland die Digitale Bildung verschläft
Die Digitalisierung schreitet voran: Unser Medienkonsum und Kommunikationsverhalten hat es schon vollständig erfasst. Ein Bereich ruht aber in den wohligen, miefigen und vor allem analogen Zeiten der 1980er Jahre: Die Bildung. Digitale Bildung ist in Deutschland ein Fremdwort und bedeutet eben nicht, nur Beamer mit Powerpoint statt Overheadprojektoren einzusetzen. Es gibt sehr viel zu tun – ein weiteres Aufschieben von Reformen wäre fatal. Drei notwendige Schritte.
Vor wenigen Wochen gab es die Meldung, dass die Handschrift bei Kindern auszusterben drohe. Es folgten Beiträge im Feuilleton und Bildungspolitiker meldeten sich zu Wort. Diese Debatte zeigt, dass wir uns lieber mit den Themen der Vergangenheit, als mit denen der Zukunft beschäftigen wollen. Hand aufs Herz: Wann haben Sie das letzte Mal eine Seite per Hand beschrieben? Ich kann mich nicht daran erinnern, es ist lang her. Natürlich, eine Handschrift schult auch die Motorik, daher möchte ich die Handschrift gar nicht abwerten – wohl aber die Fokussierung auf bestimmte Themen in bildungspolitischen Diskursen.
In dem Ressortabgestimmten Entwurf der Digitalen Agenda existiert zwar ein Abschnitt zu „Bildung, Forschung, Wissenschaft, Kultur und Medien“, wirklich konkrete Aussagen zur digitalen Bildung sucht man aber vergeblich. Ein Hauptproblem ist dabei sicherlich auch das Kooperatiionsverbot, das dem Bund verbietet sich in die Bildungsaufgaben der Länder einzumischen (bzw. diese zu finanzieren). Die SPD forderte im letzten Bundestagswahlkampf eine Abschaffung eben dieser (unsinnigen) Regelung, konnte sich damit aber nicht gegen CDU/CSU durchsetzen. Zwar soll es eine leichte Aufweichung geben, diese beträfe aber nur Hochschulen. Aber auch ohne Kooperationsverbot existieren bei vielen Bildungspolitikerinnen und -politiker Skepsis oder gar Furcht bzgl. der Digitalisierung. Vielmehr scheint dieses Koopertationsverbot auch gern als Ausrede verwendet zu werden, um sich mit manchen Themen nicht beschäftigen zu müssen.
In Deutschland sind quasi alle Kinder und Jugendliche online (PDF). Doch nicht nur Menschen sind online, wir treten ebenso in das Zeitalter des Internets der Dinge ein: Geräte vernetzen sich und sind online verfügbar. Dies wird einen enormen Einfluss auf unseren Alltag, unseren Beruf und auch die Bildung haben. Was Eltern ggf. versäumen – einen medienpädagogischen vernünftigen Umgang mit Computern und dem Internet – muss spätestens in den Schulen erklärt und vermittelt werden. Dazu bedarf es enormen Anstrengung im Bereich der Medienkompetenz bei den Lehrkräften.
Digitale Lehrmittel
Zwar gibt es in Schulen bereits jetzt Räume, die mit Computern ausgestattet sind – die Digitalisierung des Klassenzimmers ist allerdings noch nicht eingetreten. Dies macht sich insbesondere an den Lehrmaterialien bemerkbar, die fast ausschließlich in gedruckter Form vorliegen. Die Vorteile der Digitalisierung, somit die einfache Weiterverbreitung und auch, falls keine technischen Beschränkungen vorliegen, die Möglichkeit, Inhalte anpassen und erweitern zu können, wurden bislang versäumt. Ein Grund für den Mangel an digitalen Lehrmittel sind fehlende rechtliche Rahmenbedingungen. So erlauben aktuelle gesetzliche Regelungen keine digitale Kopie von Lehrmaterialien bzw. deren erneute Weitergabe, insbesondere mit Erweiterungen, Änderungen und Neuzusammenstellungen (Remix).
Durch die technischen Möglichkeiten von digitalen Lehrmitteln kann die textbezogene Vermittlung von Inhalten um multimediale Aspekte erweitert werden. Mit interaktiven Objekten, Videos und Spielen können Sachverhalte vereinfacht und für Schülerinnen und Schüler greifbarer vermittelt werden. Ebenso kann durch Social Reading – dem gemeinsamen Lesen eines E-Books innerhalb der Schülerschaft – über Inhalte diskutiert und untereinander vermittelt werden. Desweiteren müssen Schülerinnen und Schüler bei elektronischen Schulbüchern keine schweren Bücher tragen, es reicht ein Gerät (Tablet oder Laptop) zur Anzeige und Verwendung.
Werden (Tablet-)Computer großflächig in Schulen eingesetzt, erweitert sich der Markt für Lehrmaterialien um einen weiteren Akteur. Neben den Inhalteanbietern sind auch die Gerätehersteller fortan von Bedeutung. Damit keine feste Bindung an nur genau einen Hersteller entsteht, müssen elektronische Schulbücher plattformneutral, in einem offenen Format und unter einer freien Lizenz veröffentlicht werden, das die Weitergabe von (bearbeiteten) Werken ermöglicht (z. B. Creative Commons). Es ist bereits jetzt möglich, Schulbücher z. B. im offenen Format HTML5 zu entwickeln.
Durch den offenen Zugang zu den Materialien folgt die Kostenfreiheit für Schülerinnen und Schüler und die Steigerung der Bildungsgerechtigkeit. Ebenso kann der Markt für Schulbücher erweitert werden, so dass Vergleiche zwischen verschiedenen Büchern möglich und die Qualität der Lerninhalte verbessert wird. All dies wird als Open Educational Resources, kurz OER bezeichnet. Erfolgreiche Beispiele bei der Umsetzung gibt es z. B. beim Massachusetts Institute for Technology oder direkt bei unseren Nachbarn in Polen, wo OER bereits großflächig eingesetzt wird.
Um OER in Deutschland einführen zu können, sollte der Bundestag und der Bundesrat zu aller erst das Kooperationsverbot aufheben. Es sind ebenso ein Kompetenzzentrum für OER geschaffen werden, in dem die Grundsätze des offenen Zugangs zu Lehrmittel konkretisiert werden. Im zweiten Schritt sollen dann einheitliche Regelung zu digitalen Lehrmitteln verabschiedet und diese dann auch in den Schulen vor Ort umgesetzt werden.
Pflichtfach Informatik
Wir sind umgeben von kleineren oder größeren Computern, sei es das Smartphone oder künftig der intelligente und vernetzte Kühlschrank. Nur die wenigsten verstehen jedoch die Funktionsweise der Geräte oder des Internets. Dadurch entsteht ein enormes Kompetenz- und folglich auch Machtgefälle: Wenige technisch versierte Menschen, verstehen die Funktionsweise und können diese ggf. beeinflussen, andere sind darauf angewiesen, dass die Geräte einfach funktionieren. Als Nutzer oder Nutzerin bin ich z. B. nicht mehr, anders als noch in den 1990er Jahren, durch weniger benutzerfreundliche Geräte verpflichtet, mich mit der Technik auseinanderzusetzen (bspw. Installation von Gerätetreibern an Computern). Dieser Fortschritt der Usability bedeutet aber auch ein verringertes Technikverständnis. In einer Welt, die gerade erst am Beginn der Digitalisierung steht, ist dies eine fatale Entwicklung – nicht nur aus wirtschaftlicher Sicht mit Bezug zum Fachkräftemangel. Wenn für 99 % der Bevölkerung jedes Objekt in ihrer Umgebung eine Black-Box ist, so ist dies der erste Schritt in eine wahr gewordene Dystopie.
Die Einführung des Pflichtfachs Informatik in der Sekundarstufe 1, vielleicht sogar in der Grundschule, ist daher dringend nötig. Es soll hier weniger um das eigene Programmieren gehen, sondern um das technische Verständnisse der (zukünftigen) Lebensrealitäten. Ebenfalls soll Medienkompetenz vermittelt werden, wobei diese auch verstärkt in allen anderen Schulfächern zum Alltag gehören sollte.
Programmieren als Fremdsprache
Frankreich, Spanisch, Russisch oder doch Latein? Neben Englisch stehen die Schülerinnen und Schüler vor der Wahl der zweiten Fremdsprache. Als weitere Option sollte es eine Programmiersprache geben. Vielleicht Java. Vielleicht JavaScript. Oder gar Swift? Völlig egal. Denn es gibt eine Ähnlichkeit zur lateinischen Sprache: Wenn man sie einmal verstanden hat, sind Ableitungen und Dialekte einfach nachzulernen. Eine Programmiersprache ist nicht nur sehr nützlich, sie besteht ebenso wie eine normale Sprache aus Syntax und Semantik. Diese zu verstehen und umzusetzen ist dabei sogar viel wichtiger als bei einer natürlichen Sprache. Ein Wort an der falschen Stelle oder sogar auch nur das Auslassen eines Semikolons entscheiden darüber, ob ein Ausdruck Sinn ergibt. Und auch Programmiersprachen sind lebendige Sprachen; sogar die Jugendsprache hat ihren ganz eigenen Einfluss.
Dies sind nur drei Themenblöcke der digitalen Bildung, die es abzuarbeiten gilt. Es wird höchste Zeit, dass die politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger der Länder und des Bundes gemeinsam ein schlüssiges Konzept zur Digitalisierung der Bildung erarbeiten. Denn: Die Digitalisierung wird kommen, so oder so. Momentan kann Politik diesen Prozess noch gestalten. Noch.